Wie Tolkien in seiner eigentlich als interner Übersetzerhilfe gedachten Artikel "Guide to the Names in The Lord of the Rings" (dann posthum 1980 von Jared Lobdell in A Tolkien Compass auf Seiten 153 bis 201 veröffentlicht; in der Neuauflage von 2003 wurde dieser Artikel auf Wunsch des Tolkien Estate indes entfernt) schon feststellte, ist Shelob gebildet aus she "sie" und lob als dialektales englisches Wort für "Spinne". Dies hielt er für einen ganz passenden Namen für eine Spinne.
Margaret Carroux, die sich stets bemühte (und der es nahezu immer gelang), den Ton und die Bedeutung von Tolkiens Namen angemessen ins Deutsche zu übertragen, gab sich hier besonders viel Mühe und konstruierte ihre Übersetzung auf der Grundlage von "Kanker" (eine alte deutsche Bezeichnung für einen Weberknecht, an sich also eine kleine und harmlose Spinne; siehe Friedrich Kluges Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, das es seit 1883 auf über 20 Auflagen gebracht hat) und änderte das maskuline Suffix "-er" in das feminine Suffix "-a" ab - und schon haben wir "Kankra" als Bezeichnung für eine weibliche Spinne.
Wer mir nicht glaubt, kann das bei Tolkien selbst (Seite 173 des Artikels) nachlesen:
"Though it sounds (I think) a suitable name for the Spider, in some foreign (orkish) tongue, it is actually composed of she and lob (a dialectal English word meaning 'spider; see Bilbo's song in chapter VIII of The Hobbit). The Dutch version retains Shelob, but the Swedish has the rather feeble Honmonstret."
Tolkien hätte die Übersetzung von Carroux sicherlich gelobt, wenn er zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Anmerkungen (erstellt nach dem Erscheinen der niederländischen und schwedischen Ausgaben von 1956 bzw. 1959) schon gewusst hätte.
Erschreckender Weise gibt es Leute, die dem Archivgeier (und, deutlich schlimmer noch, Tolkien) nicht glauben (s. Nautilus 21, S. 23; aus Fairness soll darauf hingewiesen werden, dass der Schuldige Jürgen Pirner ist und nicht Alexander Huiskes). Für diese Leute geht der Archivgeier nun exklusiv ein wenig ins philologische Detail. Er beginnt mit einem Zitat aus dem Oxford English Dictionary, CD-ROM-Ausgabe von 1994 (der wir auch die aparte Farbgebung verdanken):
† lob, n.1 Obs.
[OE. lobbe wk. fem.; cf. loppe, LOP n.]
A spider.
c1000 Lamb. Ps. lxxxix. 10 (Bosw.) Ure gær swa swa lobbe [Vulg. sicut aranea] oððe rynge beoÞ asmeade.
a1325 Prose Psalter xxxviii. 15 þou madest his soule to stumblen as a lob [Vulg. sicut araneam].
Ibid. lxxxix. 10 Our yeres shal Þenchen as Þe lob.
Der erste Beleg entstammt einem altenglischen Psalter (einer Psalmensammlung des Alten Testaments). Übersetzt heißt die Stelle wörtlich: "Unsere Jahre wie die Spinne oder Ringe sind bewertet" (nach der lateinischen Vorlage anni nostri sicut aranea mediabuntur).
Der zweite und der dritte Beleg entstammen einem mittelenglischen Psalter. Sie bedeuten: "Du ließest seine Seele wie eine Spinne stolpern." bzw. "Unsere Jahre sollen uns dünken wie die Spinne."
Das Kreuzzeichen zu Anfang des Eintrags bedeutet, dass das Wort im Englischen nicht mehr benutzt wird; das "Obs." (für "obsolete") ergänzt dies noch einmal dahingehend, dass auch die ursprüngliche Bedeutung nicht mehr erhalten ist. "OE." steht natürlich für "Old English".
Bosworth/Tollers Anglo-Saxon Dictionary führt unter dem Eintrag lobbe "a spider" den obigen Beleg auf und ergänzt einen weiteren (aus einer Gesetzsammlung, dem Law of the Penitent, d.h. dem "Gesetzbuch der Bußfertigen"):
"Místlíce þréala gebynaþ for synnan bendas oþþe dyntas carcernþýstra lobban" - übersetzt: "Verschiedene Bestrafungen sind angemessen für Sünden, Fesseln oder Schläge, Gefängnis-Dunkelheit, Spinnen."
Friedrich Holthausens Altenglisches etymologisches Wörterbuch weiß folgendes zu berichten:
lobbe f. "Spinne", ne. lob, mnd. lobbe, lubbe "Hand-, Halskrause; Hängelippe, großer Hund, Stockfisch", alem. loppen "wackeln"; ais. lubba "dicker Dorsch", schwed. ~ "dickes Weib", lubbig "dick"; s. loppe
loppe f. "Spinne, Seidenraupe", me. ~, s. lobbe
In der Nautilus wird alsdann vermeldet, dass lob "Krebs" bedeute und Shelob also als "weiblicher Krebs" zu übersetzen sei. Sieht man davon ab, dass dies inhaltlich keinerlei Sinn ergibt (dazu weiter unten mehr), ist es auch etymologisch schlicht falsch. Das englische Wort für "krebs", lobster, geht zwar schon auf das altenglische lobbe (vom Altenglischen zum Mittelenglischen dann, wie gesehen, aufgrund von Minderbetonung auf lob verkürzt) zurück, ist allerdings von diesem mittels des produktiven Suffixes -estre abgeleitet, dessen einzige Funktion es ist, feminine Nomina zu bilden; Holthausen a.a.O. hat den Eintrag: "loppestre f. "Hummer, Heuschrecke", ne. lobster, zum vor.". Dies ist auf den ersten Blick eteas verwirrend, da lobbe ja schon feminin ist; allerdings ist bereits das Ausgangswort ein spätaltenglischer Beleg, und um das Jahr 1000 hatte der Flexionsverfall des Altenglischen schon eingesetzt. Es war somit nicht mehr für jeden Muttersprachler erkenntlich, dass lobbe feminin ist, u d so wurde für die Heuschrecke bzw. den Hummer ein weiteres Feminin nachgebildet.
Im Middle English Dictionary finden sich unter der Spätform loppe noch sieben weitere Einträge, davon drei aus Geoffrey Chaucers Treatise on the Astrolabe (ca. 1393), dem ersten englischsprachigen Fachtext (und hier erstmals in nicht-religiöser Bedeutung). Die "modernsten" Belege sind mit "a1500" markiert und stammen aus einer späten Abschrift von John Mandeville's Travels, einem (großteils erfundenen) Reisebericht aus dem 13. Jahrhundert.
Ab dem 15. Jahrhundert wird dann lop(pe) durch spider ersetzt, das erstmals 1340 belegt ist und sich dann durchsetzt. Dies könnte damit zu tun haben, dass lop(pe) mittelenglisch in Konkurrenz zu einem gleichlautenden Wort für "Fliege" steht, das aus dem skandinavischen loppa abgeleitet ist. Die durch die "Mehrbedeutung" entstehende Verwirrung wird dadurch gelöst, dass eines der Wörter durch ein anderes, bedeutungsgleiches, ersetzt wird.
Damit verliert sich die Spur von lob(be) "Spinne" im Dunkel der englischen Sprachgeschichte - allerdings nicht sofort. Zwar berichtet Joseph Shipleys Dictionary of Early English auf S. 392 von einer "Lebenspanne" des Wortes "9th to 14th century" (wobei Shipley als letzten Beleg Chaucer angibt), aber in den weiten Archiven unter dem Heimeligen Feurigen Berg fand sich ein Faksimile-Nachdruck von Elisha Coles' An English Dictionary von 1676, das folgenden Eintrag hat:
"Loppe, o. a Spider, or rather (as in Lincolnshire) a flea." (Das "o." steht für "old word.")
Insofern ist das Wort zumindest noch im 17. Jahrhundert nachweisbar belegt. Coles' Buch trägt den Untertitel: "Explaining The difficult Terms that are used in Divinity, Husbandry, Physick, Phylosophy, Law, Navigation, Mathematicks, and other Arts and Sciences. Containing Many Thousands of Hard Words (and proper names of Places) more than are in any other English Dictionary or Expositor. Together with The Etymological Derivation of them from their proper Fountains, whether Hebrew, Greek, Latin, French, or any other Language. In a Method more comprehensive, than any that is extant." Ein frühes fachsprachliches Wörtberuch also, das zeigt, das Begriffe, die aus der Allgemeinsprache verschwinden (wie lobbe/loppe) nicht nur in Dialekten, sondern (siehe auch Chaucers Treatise) auch in Fachsprachen eine letzte Zuflucht finden können.Was schließen wir nun aus all dem? Nun, die beiden lateinischen Glossen aranea machen den Bezug zur Spinne (und nicht dem Krebs...) schon eher deutlich. Und es ergibt sicherlich auch wenig Sinn, dem Krebs ähnlich negative Eigenschaften zuzuweisen wie der Spinne (wegen des Falls der Seele im zweiten Zitat). Entsprechende Bilder von Spinnen und der ihnen zugewiesenen Eigenschaften finden wir in mittelenglischen Bestiarien, in die sie, im Gegensatz zu ihren griechischen Vorläufern, nachträglich aufgenommen worden sind. Im Prinzip werden der Spinne hier die Eigenschaften des Teufels zugewiesen, was die religiös motivierte Bedeutung des Wortes erklärt.
An Stelle eines direkten Auszugs soll ein Verweis auf eine PDF-Datei zum Herunterladen (Rechtsklick) mit einer Übersetzung (nebst kritischem Kommentar) zum Mittelenglischen Physiologus von etwa 1250 stehen. Die Angaben zur Spinne (hier mit spinnere bezeichnet, das wir aus dem Deutschen kennen, im Englischen aber später ebenfalls spider weichen musste) finden sich auf Seite 72 bis 76 des Textes.
Natürlich sind Bestiarien keine zoologischen Abhandlungen, sondern religiös orientierte Verhaltensmaßregeln, in denen Tiere die für den christlichen Glauben nützlichen bzw. schädlichen Eigenschaften darstellen. Und wie man an der verwiesenen Datei sieht, ist die Spinne im Mittelalter eher negativ belegt. Zudem dürfte es nach allem, das ich bislang ausgeführt habe, nicht verwundern, dass weder Hummer, Krebse noch Heuschrecken in mittelalterlichen (und schon gar nicht in mittelenglischen) Bestiarien erwähnt werden.
Man darf nie vergessen, dass Tolkiens Hauptinspirationsquelle für den Herrn der Ringe Werke der alt- und mittelenglischen Literatur waren! Dies ist in schöner Ausführlichkeit in Tom Shippeys The Road to Middle-earth dargestellt, insbesondere in "Appendix A - Tolkien's Sources: The True Tradition" (S. 296-302) dargestellt.
Mit einem für den Auslöser der Diskussion sehr angemessenen Zitat von Shippey (S. 292) soll diese Betrachtung dann auch ausklingen:
"The real horror for Tolkien would have probably come when he realised that there were people writing about him who could not tell Old English from Old Norse, and genuinely thought the difference didn't matter."
Bosworth, Joseph T & T. Northcote Toller: An Anglo-Saxon Dictionary. Reprinted 1980. Oxford, etc: Oxford University Press, 1898.
Coles, Elisha: An English Dictionary. Nachdruck des Originals von 1676. Hildesheim & New York: Olms, 1973.
Holthausen, Friedrich: Altenglisches etymologisches Wörterbuch. Heidelberg: Universitätsverlag Carl Winter, 3. Auflage 1974.
Kurath, Hans & Sherman M. Kahn, eds.: Middle English Dictionary. Ann Arbor: University of Michigan Press, 1954ff.
Shipley, Joseph T.: Dictionary of Early English. New York: Philosophical Library, 1955.
Shippey, T.A.: The Road to Middle-earth. How J.R.R. Tolkien created a new mythology. London: Harper Collins, 2nd edition 1992.
Tolkien, J.R.R.: "A Guide to the Names in the Lord of the Rings". In: A Tolkien Compass, Hrsg. Jared Lobdell. New York: Ballantine, 1980, Seite 153-201.