Was beinahe in der Nautilus gestanden hätte...

Der Herr der Ringe - Die offizielle Kolumne

Große Adler über dem Mississippi

Als ich diesen Text schreibe, habe ich gerade das Endlektorat der deutschen Ausgabe des Gefährten-Quellenbands abgeschlossen, und der Text sollte bei Erscheinen dieser Nautilus schon fertig gesetzt sein. Die ersten beiden Kapitel der Übersetzung des Kreaturenbandes habe ich auch schon vorliegen.

Wie so häufig, ergaben sich auch bei diesem Band einige durchaus... unvorhergesehene Probleme beim Lektorat. Nicht nur, dass sich die Zahl der Errata für das englische Original durch unsere Arbeit vervierfacht hat (damit rechnet man ja mittlerweile), nein, manchmal stellte uns auch einfach die Gründlichkeit der Autoren vor gewisse Probleme - denn was der Autor des Bandes in regeltechnischer Hinsicht an Mängeln hatte, glich er durch Hintergrundwissen über Tolkiens Werk und Welt mehr als nur aus.

Eines schönen Abends saß ich am Computer und war mit der Lektüre der letzten Einträge unter "G" beschäftigt (Goldbeere, Gollum, Gwaihir) - alles recht kurze Einträge, da Goldbeere keinen Auftritt im Film hat, Gollum relativ kurze Spieldaten (dafür aber einiges an Errata) und Gwaihir ebenfalls eher kurz wegkommt (nicht so wie, sagen wir, Gandalf mit seinen sechs Seiten). Es war noch recht früh, und ich dachte mir, dass ich nun gleich mit den nächsten Einträgen weiter machen könnte: Isildur (langer Spieldatenblock und eher ausführliche Beschreibung, aber teilweise identisch mit der von Elendil), Legolas (moderat komplexe Spieldaten, allerdings mit vielen Errata) und Lurtz (kurze Spieldaten, kurzer Beschreibungseintrag). Tja... dachte ich. Wären da nicht die beiden kurzen Vermerke der Übersetzerin gewesen, denen ich noch schnell nachgehen wollte:

Goldbeere ist ja die Tochter der Personifizierung der Weidenwinde, die durch ein Tal im Alten Wald fließt, das "Dingle" heißt - und auf Deutsch nirgendwo zu finden sein. Und die Adler leben auf dem "Great Shelf", auch als "Eagles' Eyrie" bekannt. Letzteres, so wissen sowohl Übersetzerin Alexandra Velten als auch ich auswendig, ist auf Deutsch der Adlerhorst; und "shelf" ist ein geologischer Fachbegriff, für den mit "Schelf" eine kongeniale deutsche Übersetzung existiert. Nichtsdestotrotz gab die Übersetzerin pflichtbewusst an, dass sie den deutschen Namen nicht gefunden habe. Glücklicherweise verfüge ich über die aktuellsten Ausgaben der Mittelerde-Atlanten von Karen Wynn Fonstad, und da konnte das ja nicht so schwer sein.

Denkste.

Im Index des englischen Atlas gibt es zwar einen Eintrag "The Great Shelf", allerdings ohne Verweis auf einen Landkarteneintrag, sondern nur als Querverweis zu "Eagles' Eyrie"; konsequenterweise findet sich "The Great Shelf" auf keiner Karte. Das ist aber kein Problem, denke ich mir, denn was im englischen Index steht, steht sicherlich auch im deutschen. Etwas später wusste ich, dass im Index des deutschen Atlas alle Querverweise, die nur Namensalternativen darstellen und nicht selbst auf einer Karte auftauchen, gestrichen wurden. Jubel ohnegleichen.

Also tue ich das, was ich in diesen Situationen immer tue, nämlich in Fosters Mittelerde-Lexikon in der sehr gründlich überarbeiteten deutschen Übersetzung von Helmut Pesch nachzusehen. Kein "Großes Schelf". Auch kein "Schelf, großes". Tragisch. Also auf zur englischen Ausgabe, um nachzusehen, wo der Begriff auf Englisch erwähnt wird. Im Kleinen Hobbit, wer hätt's gedacht. Foster benutzte ganz offenkundig eine anderes paginierte Ausgabe als ich, aber das macht ja nichts - es gibt ja nur zwei Kapitel, in denen die Großen Adler vorkommen, und die kann ich ja kurz noch einmal überfliegen (ich habe den englischen Hobbit nicht in elektronischer Form). Ah, hier. "The Great Shelf".

Ich merke mir die Stelle und lese das ganze noch einmal auf Deutsch nach (den deutschen Hobbit habe ich zwar in elektronischer Form, aber das lohnt den Aufwand jetzt auch nicht mehr). Siehe da, da steht es: "Große Felsplatte". Warum ich das nicht in Pesch/Foster fand? Weil dort erst alle Einträge kommen, die mit "Große ..." anfangen, dann alle mit "Großer..." und letztlich alle mit "Großes...". Insofern liegen diverse Seiten zwischen "Große Felsplatte" und meinem hypothetischen "Großen Schelf", und da ich selbst nie auf die Idee käme, Einträge so zu sortieren, kam ich auch nicht auf die Idee, so nach ihnen zu suchen. Immerhin reden wir von sieben Seiten, die zwischen den beiden Einträgen gelegen hätten.

Es wird aber noch besser: Foster/Peschs Eintrag zu "Die Große Felsplatte" verweist kommentarlos auf "Die Große Platte" (nur noch sechs Seiten bis zum Ort, an dem das "Große Schelf" gestanden hätte). Der Grund ist, dass Helmut Pesch die Haupteinträge des Lexikons nach den neuen Krege-Übersetzungen gestaltet hat und bei den alten Übersetzungen auf die neuen verweist (und umgekehrt bei den neuen in Klammern die alten Bezeichnungen angibt). Ich denke, er musste dies tun (verlagsseitig), denn er hält von den Krege-Übersetzungen ungefähr genauso wenig wie ich. Da aber nun einmal Herr Krege "Great Shelf" mit "Große Platte" übersetzt hat (tektonisch sicherlich sinnvoll, aber so aus dem Kontext heraus im Gebirge... ich weiß ja nicht...). Da wir auch im Falle des Hobbits die alte Übersetzung verwenden, weiß ich endlich, dass es "Die Große Felsplatte" heißt.

Also weiter zum "Dingle". Das "Derndingle" in Fangorn heißt "Tarntobel", also liegt die Übersetzung "Tobel" für "Dingle" nahe. Leider ist die Hauptquelle für "Dingle" The Adventures of Tom Bombadil, das ich nicht auf Deutsch habe. Pesch/Foster hat natürlich keine Einträge für "Tobel" und alles, was so ähnlich heißen könnte, und der Eintrag für "Dingle" im englischen Foster hilft mir auch nicht weiter. Es gibt einen Querverweis auf das "Tal der Weidenwinde", das auch viermal im Herrn der Ringe auftaucht. Den habe ich zwar als englisches E-Book, aber auf Gründen, die ich nicht nachvollziehen kann, verträgt sich der Microsoft Reader mit meinem Heimcomputer nicht, was heißt, dass ich mir die entsprechenden Kapitel in The Fellowship of the Ring nochmals durchlese. Kein "Dingle", nur ein "Valley of the Withywindle".

Mangels deutschen Abenteuer des Tom Bombadil bleibt mir nur, das gesamte Lexikon durchzuackern. Was finde ich schließlich? Dass im Gedicht "Tom geht rudern" "Dingle" gar nicht übersetzt, sondern mit "Tal der Weidenwinde" umschrieben wird, die englischen Bezeichnungen "Dingle" und "Valley of the Withywindle" auf Deutsch also die gleiche Entsprechung haben.

Alles in allem hat mich das jetzt zwei Stunden gekostet, und Isildur muss warten.

Was das mit dem Mississippi aus der Überschrift zu tun hat?

Nun, in der Beschreibung der Bockenburger Fähre gibt der Autor des Quellenbands die Breite des Brandyweins mit "1000 yard" (also etwas über 900 m) an. Das finde ich ziemlich breit, insbesondere weil eine Steinbogenbrücke darüber führt (eine architektonische Meisterleistung). Im Roman wird nur beschrieben, dass der Fluss "breit und schnell" ist, und dass die Hobbits auf der Ostseite nur mit Mühe den Schwarzen Reiter sehen können, der - im Dunklen - unter den Laternen am Westufer steht. Und das bei Nebel. Eine dunkle Gestalt in schwachem Licht bei Nebel zu sehen - Hobbits müssen schon gute Augen haben.

Ich begebe mich auf die Suche nach Infos - und finde natürlich keine. Der US-Chefredakteur des Spiels hat auch keine Ahnung, wie sein Autor auf die Idee kam. Und, noch besser: Auch der Autor hat keine. Er erinnert sich vage daran, dass er irgendwo die Zahl gelesen hätte. Wo? Oh, das sei schon so lange her...

Fündig werde ich dann doch tatsächlich in Wynn Fonstads Atlas, in dem, wenn ich dem Maßstab glauben möchte, der Fluss tatsächlich etwa einen Kilometer breit ist. Zudem äußert Frau Wynn Fonstad die Ansicht, dass der Brandywein schon etwa so breit wie der obere Mississippi gewesen sein könnte, doch ist der deutlich länger als der Brandywein (die Breite eines Flusses hängt letztlich von seiner Länge ab). Auch das kostet mich Zeit, die ich mir letztendlich auch hätte schenken können, da niemand irgend etwas weiß. Also vertraue ich einstweilen darauf, dass Frau Wynn Fonstad promovierte Geologin ist und die Dúnedain sicherlich wussten, was sie taten, als sie die Brücke bauten (obwohl Friedhelm Schneidewind in seinem Großen Mittelerde-Lexikon die Steinbogenbrücke den Zwergen zuschreibt; die haben dann hoffentlich auch gewusst, was sie da taten).

"Wynn Fonstad?", fragt der Autor des Quellenbands auf eine entsprechende Bemerkung zurück. "Ja, kann sein, dass ich die Information daher habe." Und der Chefautor springt mir hilfreich zur Seite: "Ja, von mir aus. Ändere die Breite des Flusses, wenn du eine bessere Idee hast. Einen Eintrag in den Errata ist mir das aber nicht wert." Ich seufze tief und bleibe bei den 900 m (bzw. "nahezu ein Kilometer"), da ja immerhin Wynn Fonstad... Das Leben ist nicht einfach.

Um aber etwas positiver auszuklingen: Mittlerweile sind der Sichtschirm für die Erzählerin (mit Abenteuer) sowie das Landkartenset auf Deutsch erschienen.

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